Nach den Eindrücken von Athen hat es die documenta Kassel schwer. Man kam nicht umhin, die laute Kritik der Presse mitzudenken. Dazu der Kontrast zwischen der der pulsierenden Metropole, die an sich ein wunderbares Spektakel ist und, nun ja, Kassel. Nachkriegsbauten, rekonstruierte Fassaden, die Fußgängerzone, ein Eisbecher mit Sahne.
Läuft man die langen Treppen durch die alte Fußgängerzone hinunter, erwartet einen das Zentrum der documenta in Kassel. Die erste Aufmerksamkeit gilt sicherlich dem „Parthenon der Bücher“ von Marta Minujin wohl eins der medial am weit verbreitetsten Werke der d14. Fest in Plastik eingewickelt hängen dort Bände wie „Das Leben der Anne Frank“ und „Harry Potter“. Der Schaffensprozess ist noch nicht abgeschlossen, noch fehlen etliche Bücher und das tempelförmige Baugerüst ist noch an vielen Stellen deutlich zu erkennen. Durchquert man dieses Kunstwerk, passiert man rechter Hand das Fridericianum, dessen klassizistische Inschrift von der Künstlerin Banu Cennetoglu mit „Being Safe Is Scary“ ersetzt wurde. Verlässt man den „Parthenon der Bücher“ auf der anderen Seite, erwarten einen das Naturkundemuseum Ottoneum, die documenta Halle und ein erster Blick über die Karlsaue. In das gewohnte Bild schieben sich von links Daniel Knorrs Rauchschwaden vom Zwehrenturm und auf dem Friedrichsplatz vor der documenta Halle stehen die gestapelte Betonröhren von Hiwa K, die gemeinsam mit Studierenden der Kunsthochschule Kassel gestaltet wurden. „When We Were Exhaling Images“ ist an die von Flüchtlingen erlebte Wohnsituation angelehnt. Die hier zu sehenden nagelneuen Rohre sind nach allen Regeln des Hipster-Chics gestaltetet und sollten im Sinne des Künstlers bei Airbnb vermietet werden, was jedoch von der Stadt untersagt wurde. Es ergibt sich ein bizarrer Gegensatz, der sich zwischen diesem Kunstwerk und der imaginierten Realität ergibt.
"When We Were Exhaling Images" Hiwa K auf dem Friedrichsplatz
Ausstellungsorte
Einen breiten Spagat macht das kuratorische Team auch bei der Wahl der Standorte. Anlässlich des Museums für 100 Tage wurden über 20 Ausstellungsorte geschaffen, von denen die meisten einem herkömmlichen Ausstellungsformat folgen. Anders als in Athen, wo klassische materielle Kunst an wesentlich weniger Standorten gezeigt wurde, dafür unzählige ephemere Performances über die Stadt verteilt stattfanden. Neben etablierten Größen der Kassler Kulturlandschaft, wie dem Fridericianum, der Neuen Galerie und der documenta Halle, wurden auch alte Fabrikhallen und leerstehende Gewerbe-Pavillons genutzt. Sehr empfehlenswert sind auch die kleineren Ausstellungsorte, wie die Glas-Pavillons an der Kurt-Schumacher-Straße, das Naturkundemuseum Ottoneum und das Hessische Landesmuseum, gleich neben der von Ibrahim Mahama mit Jutesäcken verhüllten Torwache „Check Point Sekondi Loco. 1901–2030“. Auch das Giesshaus, die Filmvorführungen im Cinestar und der Kulturbahnhof, ein ehemaliger unterirdischer Bahnhof vis à vis des Hauptbahnhofs, den man durch einen Schiffscontainer betreten kann, lohnen sich.
Diese Dezentralisierung ermutigte die Besucher*innen, über Kassels Stadtzentrum hinaus die Außenbezirke zu erkunden und reflektierte auf geschickte Weise, inwiefern die in den Ausstellungen besprochenen Thematiken auch hier greifen. Die Gottschalk-Halle im Norden der Stadt war einst eine textile Produktionsstätte, die ihre Aufträge, sowie bald darauf ihre Maschinen an günstigere Produktionsländer abgab. An diesen unkonventionellen Ausstellungsorten wirken die Räumlichkeiten stark auf die Präsentation der Werke ein und die Aussage der Werke wird durch die gewählte Platzierung manipuliert. Den Gegenpol zu der anti-institutionellen Ausstellungspraktik bildet die Neue Galerie. Hier ist der harte Kern der ohne hin schon schweren Kost der documenta 14 vertreten. Das gilt sowohl inhaltlich als auch kuratorisch, wobei diese Disziplinen in gegenseitiger Abhängigkeit zu verstehen sind.
Neue Galerie
In der Neuen Galerie ist die politische Botschaft der d14 wohl am lautesten. Die dunklen Kapitel der Menschheit, von der Sklaverei über den Nationalsozialismus bis hin zur Flüchtlingskrise werden besprochen. Hier werden etablierte Erzählweisen aufgebrochen und der Blick über die wiedergekäuten Themen der Kunstgeschichte hinaus gerichtet. Künstlerische Positionen von Menschen, die am so oft benannten „Rande der Gesellschaft“ oder jenseits des eurozentristischen Blicks leben und lange keine Aufmerksamkeit erfuhren, bekommen hier Platz an den Wänden.
Die inhaltlichen Zusammenhänge und Hintergründe zu den Künstlern gilt es sich jedoch selbst zu erschließen. Dass Kurator Adam Szymczyk nicht viel Wert auf klassische Wissensvermittlung legt, ist bekannt. Doch sollen die Werke und die kuratorische Anordnung völlig losgelöst für sich sprechen? Im Vorfeld riet das kuratorische Team „unlearn what you know“, um sich dann mit dem Weltbild vollzusaugen, was hier konstruiert wird? Also eine klare Positionierung gegen die standardisierte Weltanschauung, die in vielen Museen bis heute vermittelt wird. Ist das nicht eine Anmaßung, die eben das tut: Eine Wahrheit mit einer anderen zu ersetzten? Bloß auf scheinbar reflektierte Weise. Doch das funktioniert eben auch nicht vollkommen ohne Erklärung, denn die Verbindung zwischen einem Reiterbildnis am Strand von Max Liebermann und zwei Portraits von abgetrennten Köpfen von Erna Rosenstein lässt sich ohne Vorwissen zu den Künstlerbiografien nicht erschließen. Die Künstlerin, die selbst vor dem NS-Regime flüchtete, musste als Kind die Hinrichtung ihrer Eltern durch die Nationalsozialisten mitansehen. Der Zusammenhang zwischen diesen beiden sehr unterschiedlichen künstlerischen Positionen kann also in der Verfolgung von Juden durch das NS-Regime gesehen werden.
Beispielhaft für den Umgang mit der NS-Vergangenheit ist auch die raumgreifende Installation von Maria Eichhorn. Die Künstlerin überträgt das Thema der, in den Medien, Museen und der Neuen Galerie präsenten Raubkunst, auf ein neues Medium. Das Kernstück der Arbeit „Rose Valland Institute“ ist ein mehrere Meter hohes Bücherregal, in dem enteignete Bücher aus deutschen Bibliotheken stehen.
„The Missing Link. Dicolonisation Education by Mrs Smiling Stone“ von Pélagie Gbaguidi in der Neuen Galerie
Als willkommene Abwechslung nach den vielen abgedunkelten, vollgehängten Räumen, scheint der Schritt in den lichtdurchfluteten Gang, in dem die Installation „The Missing Link. Dicolonisation Education by Mrs Smiling Stone“ von Pélagie Gbaguidi hängt. Das helle Licht, die von der Decke hängenden weißen Stoffbanner mit bunten, naiven Malereien und dem Blick über die Karlsaue gleicht der Erlösung aus den Qualen der Vergangenheit. Diese dauert jedoch nur einen Moment an, bevor die Botschaft des Werks bezüglich der schulischen Verbreitung eben jeder hierarchischer Weltsicht, die es der d14 zu bekämpfen gilt.
Die Neue Galerie braucht viel Zeit und Einsatz seitens der Besucher*innen, die Narrativen, die hier erzählt werden, zu dekodieren. Am Ende bleibt die Ausstellung der Neuen Galerie dunkel in Erinnerung, sowohl inhaltlich als auch atmosphärisch. Auch emotional verschwimmt das gezeigte Übel zu einem diffusen Schuldgefühl.
Neue Neue Galerie
Im Vergleich fühlt sich die Neue Neue Galerie im brutalistischen Bau der Hauptpost an wie ein genussvoller Gang. Das gewohnte Sehverhalten von zeitgenössischer Installationskunst wird in dieser Ausstellung befriedigt. Der Zugang und die Auseinandersetzung werden jedoch wesentlich stärker über eine visuelle Ästhetik angeregt. Doch auch hier sind die Botschaften, die in den Werken kodiert sind, von einem ähnlich schweren Tonus. Die große Halle ist auf der einen Längsseite durch kleine Kuben untergliedert, wo jede Arbeit einen eigenen Wirkungsraum bekommt. Auf der anderen Längsseite ist ein riesiges Mural von Gordon Hookey „Murriland“, das sich mit der Machtergreifung der Briten in Australien auseinandersetzt. Mit dem Werk Pile o’ Sápmi (2017) gibt Máret Ánne Sara dem Kampf der Sami unter der norwegischen Regierung eine Stimme. Der Vorhang aus Rentierschädeln und großformatige Fotografien hinterlassen einen bleiben Eindruck.
Pile o’ Sápmi von Máret Ánne Sara in der Neuen Neuen Galerie
Auffallend ist für die d14 die starke Durchmischung der Künstler*innen hinsichtlich ihrer Nationalität. Obgleich die Informationen fehlen, leiten die Namen doch schnell in eine geographische Richtung. Es ist nicht nur angenehm, die von weißen Männern dominierte Kunstwelt aufgelockert zu sehen, sondern auch sehr aufschlussreich, welche Inhalte und nationalen Traumata an anderen Orten der Welt diskutiert werden, beziehungsweise worüber an anderen Orten eine öffentliche Diskussion verweigert wird.
Fazit
Die Liste der sehenswerten Orte ist noch viel länger. Entgegen der vielen Kritik, die das Kuratoren-Team für diese documenta erfahren hat, ist es eine Ausstellung, die all die Themen, um die zu oft herum geredet wird, angeht und direkt mit Alternativen aufwartet. Diese sind in ihrer Penetranz und teilweisen Plakativität nicht perfekt, doch was soll das schon sein. Die d14 probiert Neues aus und das Neues zunächst immer erst auf Widerstand stößt, das ist auch nur eine weitere Lehre aus der Geschichte.
Autorin: Isabelle Demin